Es war ein guter Güschä!

Festivalkritik: Gurtenfestival 2015
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© Tanja Lipak

Es ist ein heisser, schwüler Montag nach dem Gurtenfestival. Ein Tag zum Freinehmen, Nichtstun. Die Beine sind schwer vom Auf- und Abstieg, dem Herumhüpfen, Tanzen und all den Pogo-Kämpfen. Die Haut braucht Pflege. Der Körper Wasser. Und der Kopf? Der ist voll mit Impressionen, Klängen, Gefühlen und Erinnerungen. Der Kopf will reflektieren. Über das Gute, Schlechte, Lustige und Unerwartete. 

 

Donnerstag: Harziger Festivalbeginn

 

Es ist Zeit, das Füdli aus der Marzili-Badi zu bewegen und den Hausberg zu erklimmen (oder in die Gurtenbahn zu steigen). Auf dem Gurtengipfel herrscht bereits reger Verkehr. Wasserpistolen, wohin das Auge reicht. Memory of an Elephant bringen gemütlichen Folk auf die Waldbühne, gefolgt von James Gruntz mit leisen Popsongs. Auf der Zeltbühne geht es mit Kovacs sehr künstlerisch zu Sache. Der grosse Eröffnungsknall fehlt hingegen, zumindest musikalisch gesprochen, denn das Geschehen findet vor allem neben und vor der Bühne statt. Vor die Nase gesetzt bekommen Besucher sehr viele goldene Tattoos und in Prinzessinnen-Haarbänder eingedrehte Haare. Das sieht hübsch aus - beim ersten Meitli. 10 Minuten und gefühlte 10‘000 gleich aussehende Frauen später, wirkt die Aufmachung dann doch eher unoriginell, ja fast schon militärisch und verordnet. Freundliche Grüsse und eine gute Eröffnung gibt es schliesslich von den Fantastischen Vier auf der Hauptbühne. Diese Show bleibt dann auch der Höhepunkt des Tages.

 

Freitag: Let’s get the Groove back (aka Tom Cruise auf der Zeltbühne)

 

Am Donnerstag herrschte Katzenjammer, am Freitag spielten Katzenjammer. Die vier Damen aus Norwegen erobern mit ihrer fröhlichen und powervollen Performance am zweiten Festivaltag die Besucher. Gleiches gilt auch für Mø. Während ihrer Show lässt die Dänin Clips aus Filmklassikern wie «Breakfast at Tiffany’s», «When Harry met Sally», «Arielle», «Peter Pan» usw. spielen, der Bäckstage-Redaktorin gefällt es - sehr. Gefallen finden viele auch an Kraftclub, die anschliessend die Hauptbühne rocken. Ihre witzigen Interaktionen mit dem Publikum gehören zu den Highlights des Festivals. Als Highlight wurde auch Ellie Goulding gehandelt, doch die Sängerin enttäuscht zunächst. Zu ruhig und fad wirkt die erste Spielzeit. Elton Johns «Your Song» bekommt nicht die Würdigung, die das Lied verdient. Und als die meisten Besucher jegliche Hoffnung verlieren, rettet sich Goulding dann doch unerwartet mit «Burn» und «Love Me Like You Do». Bei zweitem bleibt jedoch offen, ob der Enthusiasmus dem Lied oder dem dazugehörigen Film («Fifty Shades of Gray») gilt. 

 

Schlussszene aus «Harry und Sally» während Mø’s Auftritt. (© Tanja Lipak)

 

Die Party auf dem Hausberg geht anschliessend mit Giorgio Moroder auf der Zeltbühne und Eldorado FM auf der Waldbühne weiter. Zwischen den Besuchern herrscht Uneinigkeit, wo die bessere Party stattfindet, sicher ist jedoch, dass Giorgio für die gezeigten «Top Gun»- Clips extra Punkte sammeln kann. In den Himmel blickt nicht nur Tom Cruise an diesem Abend, sondern auch die mittlerweile ziemlich gut eingestimmten Festivalbesucher als Faithless ihr Konzert beginnen und mit ihrer Live-Show (inklusive Laserspektakel) für einen unvergesslichen Auftritt sorgen. Doch diese wunderbare (fast gar legendäre) Gurtennacht ist auch nach Faithless nicht zu Ende, sondern bekommt erneut ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Wald- und Zeltbühne (Chlyklass vs. Foals). Jetzt sind sogar die grössten Gurtenskeptiker einfach nur noch stumm resp. am Mittanzen … oder Nudelpfanne mampfen.

 

Samstag: Welchen Tag haben wir heute?

 

Die Nacht auf den Samstag war lang und vor dem Mittag verlässt niemand sein Bett beziehungsweise Zelt. Gut, wecken die vier Berner von Call Me Ramsey den Berg schliesslich um 14:30 Uhr mit klassischem Rock’n’Roll. In der Zeltbühne geht es einmal mehr filmisch zu und her. The Ramona Flowers - benannt nach der weiblichen Figur des Films «Scott Pilgrim vs. the World» - geben ihr Gurten-Debüt ab. Die Jungs sind nach ihrem Auftritt auf dem Gelände unterwegs und froh um jeden Konzerttipp. Leider verpasst Bäckstage während des kleinen Tête-à-Têtes die Chance, Frontman Steve zu fragen, weshalb die Band nicht «The Cornettos» getauft wurde, was irgendwie angesichts ihrer Vorliebe für Edger Wright viel sinnvoller gewesen wäre. Wie auch immer. In der Zeltbühne geht es schliesslich rockig weiter mit Archive. Wer dort war weiss, dieser Auftritt hat gesessen. Die Band gibt alles und das Publikum nimmt dankend auf. Doch dies sollte nicht der Höhepunkt der Zeltbühne gewesen sein - zumindest nicht an diesem Tag.

 

Bereits eine Stunde vor Lo&Leducs Auftritt ist das Zelt voll. Ganz voll. Letzte Pipi-Pausen müssen mindestens 45 Minuten vor Beginn erledigt sein, danach gibt es keine Möglichkeit mehr das Zelt zu verlassen oder in das Zelt einzudringen. Apropos Pipi-Pausen: Der Klassiker mit dem «zum Wasserhahn rennen, viel trinken, als wäre man kurz vor dem Umkippen und dann ganz unbemerkt vorne bei den WC Schlange anstehen» klappt für einige Mädels immer noch. Broncos vor der WC-Anlage darf man btw. nicht darauf ansprechen. Die haben Wichtigeres zu tun und wir Frauen müssten dies ohnehin unter uns klären, da mischt sich kein (Bronco-)Mann ein, so das Statement des netten Herrn bei der Anlage vor der Zeltbühne. Was die Gurtenorganisatoren von dieser Anarchie-Situation halten, wäre interessant zu erfahren. Item, Anarchie gibt es nicht nur vor dem Frauenklo, sondern auch wenige Minuten vor der Show der neuen Berner Könige Lo&Leduc. Da Bilder mehr als tausend Worte sprechen, empfiehlt es sich das Video zum Konzert auf der Bäckstage-Facebookseite anzuschauen (Hier zu sehen). Das Zelt bebte.

 

Sonntag: Schon fertig?

 

Der Sonntag ist schliesslich schneller als gedacht da. Dies muss auch der ziemlich leckere und junge George Ezra erfahren. Seine frühnachmittägige Show ist der Gurtenwecker am Sonntag. Am Familiensonntag, wie wir Berner gerne sagen. Und ein solcher sollte es dank dem Line-Up auch werden. Die wunderbare Patti Smith gibt Bern die Ehre und alle kommen ganz andenklich und besinnlich. Die 69 Jahre sieht der «Godmother of Punk» keiner an. Sie rockt als ob es kein Morgen gäbe und nimmt schliesslich auch eine Elektrogitarre auseinander. Einzig ihre Besorgnis um das Publikum, «Please drink a lot of water», die sie während ihres atemberaubenden Konzerts mehrmals ausspricht, lässt erahnen, dass sie auch unsere Grossmutter sein könnte. 

 

Patti Smith begrüsst ihre Fans persönlich. (© Tanja Lipak)

 

Die Kummerbuben haben schliesslich die Lücke zwischen Patti Smith und Patent Ochsner zu füllen, welche sie mehr als bravorös meistern. Ihr Auftritt wäre perfekt  mit einer Wasserglace in der Hand, doch von den mobilen Glaceverkäufern fehlt jede Spur. Und bis zum «Gelateria Di Berna»-Stand und zurück hat man sowieso nie genug Zeit. Und erst recht nicht vor der Abschlussshow. Und dann kommen die Gurtenaltmeister themself, Büne Huber und seine Crew. Wer vor 3 Jahren dabei war, weiss, jenes Konzert von damals ist nur schwer zu toppen. Und so liefern Patent Ochsner am Sonntag, doch jenes Konzert von 2012 schien doch schier unerreichbar. Oder liegt es an der Erinnerungsverzerrung? Oder daran, dass wir uns einige Dinge in unserer Memory Card schöner speichern als sie waren? War es damals schöner, weil endlich die Sonne mit den Patent Ochsnern kam? Sind wir dieses Jahr einfach schon zu müde und zu dehydriert nach 4 Tagen? Wer weiss. Ganz sicher ist: Auch dieser Auftritt der Berner Band wird uns in guter Erinnerung bleiben. Als eben gemütlicher, besinnlicher, versöhnlicher und hoffnungsvoller Abschluss eines sehr guten Festivals. Ob mit internationalen Topacts oder ohne: Wir Berner wissen wie man eine gute Zeit geniesst …

 

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Tanja Lipak / Mo, 20. Jul 2015